Die verborgenen Dimensionen der Armut
Ein internationales partizipatives Forschungsprojekt hat neun Schlüsseldimensionen von Armut ans Licht gebracht. Sie sind in verschiedenen Ländern des globalen Nordens und Südens überraschend ähnlich. Die folgende Zusammenfassung ist dem Schlussbericht entnommen und wurde von Johanna Stoll ins Deutsche übertragen.
„Armut in jeder Form und überall beenden“ – das übergeordnete Ziel der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung – spiegelt einen wachsenden Konsens wider über die Notwendigkeit, andere Dimensionen als nur die finanzielle in den Blick zu nehmen, wenn über Armut nachgedacht wird.
Um das globale Verständnis von multidimensionaler Armut zu verbessern, hat die internationale Bewegung ATD Vierte Welt in Zusammenarbeit mit Forscher*innen der Oxford Universität 2016 ein internationales Forschungsprojekt in sechs Ländern (Bangladesch, Bolivien, Frankreich, Tansania, Großbritannien und den USA) gestartet, um die Schlüsseldimensionen von Armut und ihre vielfältigen Beziehungen zu identifizieren.
Das Projekt basiert auf der Methodologie der Verbindung von Wissen, bei der Fachleute, Wissenschaftler*innen und Menschen in Armut Co-Forscher*innen sind. Bei dieser Methodologie werden die verschiedenen Formen von Wissen aus der Praxis, der Forschung und aufgrund von Lebenserfahrung zuerst unabhängig bei Treffen mit Peergruppen gesammelt und später zusammengebracht, um sich gegenseitig auszutauschen und neue Perspektiven auf die Realität von Armut zu entwickeln. Dieser Prozess hat zu einer Identifizierung von neun Schlüsseldimensionen von Armut geführt, welche trotz der Unterschiede in der Lebenswelt von Menschen in Armut in verschiedenen Ländern überraschend ähnlich sind[1]
Sechs dieser Dimensionen waren vorher verborgen oder bislang wenig in politischen Diskussionen betrachtet worden. Neben geläufigeren Deprivationen (Entbehrungen/Benachteiligungen), welche mit Mangel an menschenwürdiger Arbeit, unzureichendem und prekärem Einkommen und materiellen und sozialen Deprivationen verbunden sind, existieren drei Beziehungsdimensionen. Diese richten die Aufmerksamkeit auf die Art, wie Menschen, die nicht mit Armut konfrontiert sind, das Leben derer beeinflussen, die es sind: soziale Misshandlung, institutionelle Misshandlung und nicht anerkannte Kompetenzen und Beiträge der Betroffenen.
Die drei Dimensionen, die den zentralen Erlebnisbereich ausmachen, stellen die Angst und die Handlungsfähigkeit ins Zentrum der Konzeptualisierung von Armut: Fehlende Handlungsmacht (Disempowerment); das Leiden in Körper, Geist und Herz sowie Kämpfen und Widerstehen. Diese Dimensionen erinnern uns daran, warum Armut ausgerottet werden muss. Sie geben ebenfalls zu verstehen, dass jede Person, ob von Armut betroffen oder nicht, durch die fortwährende Existenz der Armut enthumanisiert wird.
Die neun Armutsdimensionen sind eng miteinander verbunden. Im Allgemeinen werden sie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen gemeinsam erlebt, eher kumulativ als isoliert. Obwohl jede Dimension in jedem Land und in der Mehrheit der Kontexte erkennbar ist, variiert jede in Form und Ausmaß je nach Ort (urban, vorstädtisch, ländlich); Zeitpunkt und Dauer (lange Perioden unterscheiden sich von kurzen Perioden, Armut in der Kindheit oder im Alter unterscheidet sich von Armut im Erwerbstätigenalter – unsere vorläufigen Ergebnisse deuten auf starke Ähnlichkeiten hinsichtlich dieser zwei Enden des Altersspektrums aufgrund der Abhängigkeit und der Machtverhältnisse hin); kulturellen Überzeugungen (beispielsweise ob Armut als durch strukturelle Faktoren oder persönliches Versagen verursacht angesehen wird); Identität (mit Diskriminierungen aufgrund von ethnischer Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung zusätzlich zu der armutsbasierten Diskriminierung); Umwelt und Umweltpolitik (von Klimawandel, Bodenschädigung, Verschmutzung und dazugehörigen Politiken bis hin zu Verelendung städtischer Gebiete und unzureichender öffentlicher Infrastruktur).
Die Sondierungsforschung mit Kindern und älteren Menschen bringt ähnliche wie die oben genannten Dimensionen zum Vorschein. Kinder jedoch kennen zwei weitere Dimensionen: die Abwesenheit von Sorge und Schutz sowie die aufopfernde Loyalität ihrer Familie gegenüber, begleitet von sozialer Misshandlung und Leiden. Für beide Gruppen scheinen Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen intensiviert zu werden durch Identität, kulturelle Normen bezüglich Kindheit und Alter und durch die Dauer der Armut.
Die Ergebnisse zeigen ebenfalls, dass echte Partizipation von Menschen in Armut gemeinsam mit anderen Akteur*innen in der internationalen Forschung einerseits möglich ist und zusätzlich neue Perspektiven generiert.
Quelle: BRAY R., DE LAAT M., GODINOT X., UGARTE A., WALKER R. (2019) The Hidden Dimensions of Poverty, Montreuil, Fourth World Publications, S. 8-9.
Der internationale Schlussbericht auf Englisch, Französisch, Spanisch und Polnisch sowie einzelne Länderberichte können hier heruntergeladen werden.
[1] Die Berichte jedes Nationalen Forschungsteams haben es dem internationalen Koordinierungsteam ermöglicht, diese internationale Synthese mit dem Titel „Die verborgenen Dimensionen der Armut“ zu formulieren. Die Synthese wurde vor der Fertigstellung von den Nationalen Forschungsteams validiert.