Ein Sprung ins Leere
Von Marina Wieland, Bremen
In dieser Woche war ich nach Brandenburg gefahren, um Freunde und ehemalige Kollegen zu besuchen. Ich wollte auch wissen, wie es den Bewohnern eines Hauses inzwischen ergangen ist, dass ich eineinhalb Jahre als Sozialarbeiterin betreut hatte. Es war ein kleines Wohnheim für 25 Personen in einen sehr kleinen Ort nahe Berlin. In dem Haus lebten Syrer, Palästinenser und eine Gruppe aus dem Tschad zusammen. Von den überwiegend jungen Männern aus dem Tschad waren einige schon mehrere Jahre in Deutschland, aber sie hatten alle noch keinen regulären Aufenthalt, während die Syrer ziemlich bald ihre Aufenthaltserlaubnis bekamen und dann woanders hinzogen.
Die Nachrichten, die ich nun aus diesem Haus bekam, haben mich sehr traurig und auch fassungslos gemacht.
Man erzählte mir, dass zwei der Bewohner aus dem Tschad nach Italien „zurückgeführt“ worden seien. Khalid und Adam. Von Khalid wusste ich, dass er zwei Jahre in Italien gelebt und dort auch hätte bleiben können. Er war nach Deutschland gekommen, weil er als Schwarzer keine Arbeit gefunden hatte. Er rechnete immer damit.
Adam jedoch war schon vier Jahre in Deutschland. Er war ein fröhlicher und optimistischer junger Mann, immer hilfsbereit und aktiv. Er war mehrmals in der Woche um 5 Uhr morgens aufgestanden, um pünktlich zum Sprachkurs zur nächsten Stadt mit dem Bus zu fahren. Es war mit den Busverbindungen aus diesem kleinen Ort nicht einfach. Er machte das, um einen Chance zum Bleiben zu haben. Er war mit 15 Jahren von zu Hause weggegangen, hatte sich durch die Wüste, durch Libyen und Europa geschlagen, bis er in diesem Dorf gelandet war. Im Tschad hatte er keine Schule besucht, er war Analphabet, trotzdem lernte er Deutsch in einem regulären Kurs und hatte schon einiges geschafft.
Er hatte dann eine Arbeit gefunden, für die er auch jeden Tag drei Stunden Fahrzeit unterwegs war. Aber das störte ihn nicht, da er so viel verdiente, dass er endlich kein Geld mehr vom deutschen Staat brauchte und selbst für sich sorgen konnte. Er dachte, damit sei alles gut.
Einige Monate vorher hatte er wochenlang über Schmerzen geklagt und ich schickte ihn zum Arzt. Schnell kam er ins Krankenhaus – er hatte Knochentuberkulose und musste zwei Monate im Hospital bleiben.
Ich besuchte ihn mehrmals im Krankenhaus. Er hatte Angst und fühlte sich sehr allein der Krankheit und der Furcht vor dem Tod. Gleich nach seiner Entlassung begann er zu arbeiten. Er ließ sich nicht unterkriegen. Mit der Arbeit hoffte er auf eine eigene Wohnung – und endlich ein normales Leben! Und nun ist er weg – zurückgeführt, wie das in der Amtssprache heißt, nach Italien, weil er dort offiziell einen Aufenthalt habe. Er hat dort nichts: keine Sprache – keinen Wohnsitz – keine Arbeit – nur wieder eine ungewisse Zukunft.
Ich erinnere mich an einen Vorfall mit einem seiner Mitbewohner aus dem Tschad. Yahia, ein junger Mann, der erst seit einigen Monaten bei uns war und uns alle mit seiner Höflichkeit und Freundlichkeit beeindruckte. Er war auch aus Italien nach Deutschland gekommen und war noch im Dublin-Verfahren, dass heißt die Behörden konnten ihn noch nach Italien abschieben, wenn alle bürokratischen Vorgänge zwischen den beiden Ländern sich innerhalb von 6 Monaten erledigten.
Er hatte in einem Heim für alte, geistig behinderte Menschen hospitiert und seine Berufung gefunden. Er wollte unbedingt Altenpfleger werden und später damit nach Afrika gehen, um zu helfen. Alle hatten ihn im Heim sehr gemocht und eine Möglichkeit geschaffen, dass er dort arbeiten könnte. Es war der Tag vor dem regulären Arbeitsbeginn, als am frühen Morgen noch in der Nacht, Beamte vom Ordnungsamt an der Haustür des Wohnheimes klingelten. Die meisten schliefen noch, nur Adam stand unter der Dusche, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Nichtsahnend öffnete er die Tür. Sie waren gekommen, um einen Mann aus dem Tschad abzuschieben. Nicht Yahia, aber dieser hörte das Klingeln und war aus dem Schlaf aufgeschreckt. Er dachte, sie kämen wegen ihm und sah seine ganze Hoffnung zerrinnen. In Panik sprang er aus einem Fenster und landete auf einem Glasdach, das sich als Regenschutz über einer Kellertreppe befand. In der Dämmerung hatte er das nicht gesehen. Das Glas brach ein und er zerschnitt sich beide Hände. Zum Glück jedoch stürzte er nicht in die Tiefe.
Im Krankenhaus fragte ich ihn, warum er das getan hatte. Und er sagte, er würde das wieder tun und lieber sterben, als zurück nach Italien zu gehen. Dort hätte er die schlimmste Zeit seines Lebens verbracht: hungernd und obdachlos – mit hunderten anderen Männern wie ihn: Gestrandete ohne Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft.
Ein somalischer Freund, der nur sein nacktes Leben auf der Flucht gerettet hatte, sagte mir einmal: Frieden sei für ihn, wenn jeder Mensch ein Zuhause, ein Stück Land, ausreichend zu essen und eine Familie hätte. Es sei doch genug für alle da, wenn wir uns damit begnügten.