Eine Erleichterung für uns alle
von Bees Verleyen (Belgien – Flandern)
Eine Petition gegen eine Familie, die schlecht dasteht? Das konnte dank dem Einsatz von Nachbarn verhindert werden.
Ein wenig weiter die Straße runter wohnte eine etwas sonderbare Frau zusammen mit ihrem Sohn. Sie hatten viele Schwierigkeiten. Soziale Hilfsdienste begleiteten sie. Die Frau hatte ein eher männliches Aussehen und einen direkten und rauen Sprachgebrauch. Deshalb wurde sie in der Nachbarschaft als merkwürdig und leicht bedrohlich wahrgenommen. Regelmäßig sprach sie Menschen mit der Frage an: „Haben Sie etwas Geld für mich übrig?“ In der Nachbarschaft sprachen alle über sie und waren genervt von ihrem ständigen Fragen nach Geld.
Eines Sonntagmorgens sah ich sie von unserem Fenster aus auf der Gartenmauer sitzen. Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie und fragte, ob sie müde sei. Plötzlich begann sie mir von ihren Gesundheitsproblemen und über einer bevorstehenden Operation zu erzählen. Es war ein angenehmes Gespräch, von Mensch zu Mensch. Und ein Detail ist mir aufgefallen: Sie fragte nicht nach Geld. War ihr Bedürfnis nach gewöhnlichem menschlichem Kontakt vielleicht größer, als ihr Bedürfnis nach Geld?
Etwas später klingelte die Nachbarsfrau bei uns mit einer Petition. „Wir sind es leid, die Belästigung von nebenan, ihr wisst von wem ich spreche“, sagte sie.
In der Tat, es geht manchmal heftig zu zwischen Mutter und Sohn, manchmal muss sogar die Polizei eingreifen. Aber eine Petition gegen diese Frau, das ging meinem Mann und mir zu weit. Derjenige, der besser dasteht, soll beschließen, dass ein anderer, der schlechter dasteht, weg muss? Nein, das konnten und wollten wir nicht. Wie und wo soll so etwas enden?
Wir suchten das Gespräch mit der Nachbarin. Wir verstanden ihr unbehagliches Gefühl, wenn das Geschrei der Nachbarin regelmäßig in ihre Wohnung durchdrang. Wir merkten, dass wir nicht unmittelbar betroffen waren, weil wir einige Häuser weiter wohnten. „Aber trotzdem“, reagierten wir, “Menschen verjagen kann doch nicht die Lösung sein. Eine Petition gegen einen Menschen? Wir können doch andere Antworten finden. Und vor allem: Haben Sie jemals mit der betroffenen Frau selbst gesprochen?“
Erst wurde es still. Dann sagte die Nachbarin: „Mit so einem Menschen ist es nicht möglich zu sprechen.“ „Vielleicht können Sie es ja doch probieren, vielleicht können wir es zusammen probieren“, schlugen wir vor. Die Nachbarin bedankte sich für unser Gespräch und ging nach Hause.
Ein wenig später sah ich die Nachbarin wieder, die die Petition organisierte. Ich sagte zu ihr: „Ich würde auch keine Petition gegen Sie unterschreiben wollen.“ „Das weiß ich“, sagte sie. „Die Nachbarschaft redet über Sie. Jemand hat sogar gesagt, es sei eigentlich eine Erleichterung zu wissen, dass es Menschen gibt, die sich für diejenigen einsetzen, die allein sind und Hilfe brauchen. Das ist eine Erleichterung für uns alle.“
Ein wenig später starb die sonderbare Nachbarsfrau und ihr
Sohn zog um. Aber für uns und für die anderen in der Nachbarschaft hinterließen sie etwas: einen Aufruf zur Menschlichkeit und Solidarität.
Mutmachgeschichten: Armut und Ausgrenzung müssen nicht sein! 1001 wahre Geschichten aus aller Welt zeigen auf, was Menschen mit vereinten Kräften bewirken können. Mehr Geschichten: https://storiesofchange.atd-fourthworld.org/